L. v. Beethoven: Missa solemnis

Ludwig van Beethoven - Über die Aufgabe der Kunst

Eines Morgens soll der kleine Ludwig sinnend aus dem Schlafzimmer geschaut und seine Abwesenheit mit den Worten entschuldigt haben: «Ich war da, in einem so schönen Gedanken beschäftigt, da konnte ich mich gar nicht ablenken lassen.»

In dieser Anekdote scheint mir vieles vom Geheimnis verborgen, welches die Musik Beethovens ausstrahlt, und welches ihr jenen unendlich beseelten Ton mit dem ganz besonderen «spezifischen Gewicht» verleiht. Weit über alle formelle Meisterschaft und über alle ideelle Kühnheit seines kompositorischen Schaffens hinaus spricht aus seinen Werken eine kaum auszulotende Empfindungskraft und gedankliche Tiefe; es entsteht eine «Philosophie in Tönen».

«Zusammengefasster, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen», berichtet Goethe nach einer Begegnung mit Beethoven, jedoch besitze er «eine leider ganz ungebändigte Persönlichkeit».

Dieser «ungebändigten» Persönlichkeit haben wir wohl ein zweites Faszinosum seines kompositorischen Schaffens zu verdanken: die Kompromisslosigkeit. Erfüllt von einem unermüdlichen Streben nach dem «Edleren, Besseren und Weiseren» nahm er sich die Freiheit, seine eigenen künstlerischen Ziele ohne Rücksicht auf den herrschenden Geschmack und die damaligen Zeremonielle der adeligen Gesellschaft zu verfolgen.

«Fahre fort, übe nicht allein die Kunst, sondern dringe auch in ihr Inneres, denn nur sie erhöht den Menschen bis zur Gottheit … Der wahre Künstler hat keinen Stolz; er fühlt dunkel, wie weit er vom Ziele entfernt ist und indes er vielleicht von anderen bewundert wird, trauert er, noch nicht dahin gekommen zu sein, wo ihm der bessere Genius nur wie eine ferne Sonne vorleuchtet.» (an eine junge Schülerin)

«Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen»

Widmung über dem Autograph des Kyrie

«Vergegenwärtige ich mir seine (Beethovens) geistige Aufgeregtheit, so muss ich gestehen, dass ich niemals vor und niemals nach diesem Zeitpuncte völliger Erden-Entrücktheit wieder Ähnliches an ihm wahrgenommen habe. In einem Wohnzimmer bei verschlossener Thür hörten wir den Meister über der Fuge zum Credo singen, heulen, stampfen. Nachdem wir dieser nahezu schauerlichen Scene lange schon zugehorcht hatten, öffnete sich die Thür und Beethoven stand vor uns mit verstörten Gesichtszügen, die Beängstigung einflössen konnten. Es sah so aus, als habe er soeben einen Kampf auf Leben und Tod mit der ganzen Schaar der Contrapunctisten, seinen immerwährenden Widersachern, bestanden.»

Diese Schilderung von Beethovens Sekretär und Biographen Anton Schindler mag verdeutlichen, mit welch geistigem und seelischem Anspruch die Arbeit an der „Missa Solemnis“ verbunden war, dem «grössten Werk, welches ich bisher geschrieben habe». Es ging dem gläubigen, aber kirchenfernen Komponisten um nichts weniger als die Aufgabe, tiefe und aufrichtige religiöse Gestimmtheit mit kritischem und aufgeklärtem Denken zu vereinbaren. «Ebenso wie Beethoven mit sich selbst kämpfte, um zu seiner persönlichen Gottesvorstellung zu gelangen, versuchte er in seiner Musik, nicht nur ein „objektives Bild“ der Grösse Gottes zu malen, sondern die Umstände des Menschen in seiner Beziehung zu Gott einzufangen». (Birgit Lodes)

Entstanden ist mit der «Missa Solemnis» ein in jeder Hinsicht aussergewöhnliches Werk: in der langen Entstehungszeit, im enormen persönlichen Engagement des Komponisten, in der Werkdauer und nicht zuletzt in den maximalen Anforderungen an die Ausführenden spiegelt sich der immense intellektuelle Zuschnitt der Komposition, welcher ihr zu Recht den Nimbus als «Werk der Ewigkeit» verleiht. Und dennoch wird die Missa immer wieder als «reine Musik des Herzens» wahrgenommen.

Wunderbar fasst dies Franz Joseph Fröhlich in einer ausführlichen Rezension 1828 zusammen: «Ein Meisterwerk, an dem sich jeder soweit hinanschwingen kann, als es sein geistiges Vermögen gestattet; durch dessen Studium er den gewaltigsten Aufschwung in jeder Beziehung gewinnen mag. Hier kann er finden, wie man im höchsten Geist der Romantik, oder, was dasselbe ist, im Geiste des Christenthums, arbeiten soll.»

An dieser Verheissung und Aufgabe werden wir uns also mit allem Respekt, mit der gebotenen Bescheidenheit und mit aller verfügbaren Leidenschaft emporschwingen, zur Ehre Gottes und zur verspäteten Feier des 250-jährigen Geburtstages von Ludwig van Beethoven.

Ambros Ott